Frommes Allerlei
D E R B R U N N E N
- E i n M ä r c h e n -
Es war einmal ein Dorf in einem dürren, öden Landstrich. Die Bewohner ernährten sich mühsam von dem, was der karge Boden hergab. Da es niemals regnete, litten sie große Not.
In diesem Dorf gab es einen Brunnen. Um ihn zu schützen, hatte man eine kleine Hütte über diesen Brunnen errichtet. Diese Hütte war recht nett anzusehen. Die Fenster waren gestrichen und mit Blumenkästen versehen. Die Tür war sehr stabil; im Vorgarten standen einige Bänke.
Die Hütte war nichts Besonderes. Es gab viel größere und prächtigere als diese. Aber es war halt ihre Brunnenhütte, und so waren die Bewohner des Dorfes sehr stolz darauf.
Der Brunnen brachte manchen Nutzen. Man konnte sich auf die Bänke setzen und ein Schwätzchen halten. Mitunter spendierte jemand einige Flaschen Wein, dann wurde ein kleines Fest gefeiert. ABM-Kräfte harkten die Wege und hatten so ihr Auskommen.
Manchmal kam auch jemand ganz nahe an die Hütte und spähte durch die Fenster. Dann konnte er im Halbdunkel die Brunnenmauer, die Seilwinde und den Schöpfeimer sehen. Mitunter hörte man ein Rumpeln und Quietschen aus der Hütte. Dann nickten die Bürger zufrieden: der Brunnen tat seine Arbeit.
Eines Tages kam ein alter Mann in dieses Dorf. Der hatte eine weite Reise hinter sich. Er setzte sich auf eine der Bänke an der Brunnenhütte und bat um einen Schluck Wasser.
"Wasser? Was ist denn das", fragten die Bürger des Dorfes erstaunt, "davon haben wir noch nie gehört?"
"Ihr habt hier einen Brunnen, dann müßt ihr doch auch Wasser haben!"
"Ja der Brunnen! Falls du am Sonntag noch hier bist, kannst du ihn rumpeln und quietschen hören. Wenn du andächtig zuhörst, wird es dir besser gehen."
Der alte Mann hörte das Rumpeln und Quietschen am Sonntag. Aber es ging ihm nicht besser; im Gegenteil, er wurde sehr traurig. Er hatte gehört, es gäbe Orte, wo es sehr viel Wasser gibt. Weise Männer und Frauen berichteten von Flüssen und Seen. Es gäbe Wüsten, die durch Wasser zu blühenden Gärten wurden; zu Wäldern mit riesigen Bäumen.
Der Mann liebte diese Geschichten. So hatte er sich in jungen Jahren aufgemacht, diese Seen und Flüsse zu suchen. Er wollte die Gärten und Wälder mit eigenen Augen sehen. Er war mühevolle Wege gegangen und hatte vieles erlebt: Brunnen, die Tropfen von Wasser gaben; auch eine Quelle, aus der viele trinken konnte. Dort hatte er Hilfe für viele Jahre bekommen. Aber die Seen und Wälder hatte er nicht gefunden. Stattdessen war er jetzt in dieses dürre Land gelangt; in ein ödes Dorf mit einem Brunnen, der kein Wasser gab.
Der alte Mann besaß einen uralten, geheimnisvollen Schwamm. Wenn er den auspreßte, kamen meist einige Tropfen Wasser hervor. Dieser Schwamm hatte ihn auf seiner weiten Reise am Leben erhalten.
Dennoch war der Mann müde geworden. Deshalb beschloß er, vorläufig an diesem Ort zu bleiben. Vielleicht geschah das Wunder, daß der Brunnen doch Wasser gab. Solche Wunder soll es schon gegeben haben. Vielleicht würde das auch hier geschehen.
Die Jahre vergingen. Der Brunnen rumpelte und quietschte, manchmal mehr, manchmal weniger. Dann kam eine Zeit, da wurde es sehr still. Man konnte meinen, den Brunnen in der Hütte gäbe es gar nicht mehr.
Doch eines Tages öffnete sich die stabile Tür. Eine Frau mit vier Kindern verließ die Hütte und ging weg. Danach wurde das Rumpeln und Quietschen spürbar lauter. Und eines Tages waren plötzlich die Scheiben beschlagen. Der alte Mann wurde ganz aufgeregt. Wasserdampf in der Hütte! Begann jetzt das große Wunder? Würde der Brunnen Wasser geben?
Kurze Zeit später war alles wie vorher. Das Leben ging wieder seinen gewohnten Trott. Bis eines Tages ein Hund auftauchte und den alten Mann böse ankläffte. Der sprang auf und flüchtete in die Brunnenhütte. Das war eigentlich verboten, aber er hatte keine Wahl.
Der alte Mann sah sich um. Tatsächlich, da war die Winde mit dem Schöpfeimer und dort die Brunnenmauer. Es war niemand zu sehen. Der Hund kläffte noch immer vor der Tür. Da nahm der Mann all seinen Mut zusammen und ging zum Brunnen. Vielleicht gab es doch Wasser darin?
Aber er konnte nichts entdecken. Nur ein dunkles Loch tat sich vor ihm auf. Er sah sich noch einmal um. Dann begann er - ganz vorsichtig - den Schöpfeimer hinabzulassen. Er drehte die Winde weiter und weiter. Es war ein langes Seil, aber es reichte nicht bis auf den Grund. Das war merkwürdig. Der Brunnen mußte sehr tief sein.
Der alte Mann nahm einen kleinen Stein und warf ihn in den Brunnenschacht. Er hielt die Luft an und horchte, wann der Stein aufschlug. Doch er hörte nichts; kein Geräusch kam aus der Tiefe. Das war merkwürdig? Er nahm einen anderen Stein und versuchte es erneut - das gleiche Ergebnis.
Dem Mann wurde es unheimlich. Er nahm einen größeren Stein und warf ihn hinab. Schweigen. Er warf immer größere Brocken - stets ohne Ergebnis. Doch dann, plötzlich, begann sich in der Tiefe etwas zu regen. Zunächst ganz leise; aber es wurde immer lauter. Ein unwilliges, drohendes Knurren drang nach oben und ein eklig-beißender Geruch begann sich auszubreiten.
Plötzlich war auch der Hund im Brunnenhaus. Sein böses Bellen, das Knurren aus der Tiefe und der üble Geruch waren zuviel für den alten Mann. Er nahm die Beine in die Hand und lief davon. In diesem Dorf würde wohl so schnell kein Wunder geschehen.
Er lief jedoch nicht weit. Irgendwie, das fühlte er, war er noch immer mit dem Brunnen verbunden. Trotzdem begann er, das öde Dorf langsam zu vergessen. Bis plötzlich die Frau aus der Brunnenhütte zu ihm kam.
"Hilf mir, alter Mann", rief sie, "der Brunnen will meine Kinder verschlingen."
"Bitte doch die Bürger des Dorfes um Hilfe."
"Das nutzt nichts. Die sind doch sehr stolz auf ihren Brunnen. Sie sagen, der sei so nett und freundlich; der tue niemanden etwas zu Leide. Mir würde niemand glauben."
Da fiel dem alten Mann wieder das drohende Knurren aus der bodenlosen Tiefe ein und der eklige, beißende Geruch. Aber was konnte er tun? Wie sollte er der armen Frau helfen? Er wußte es nicht. So redete er ihr Mut zu und gab ihr einige Tröpfchen Wasser aus seinem uralten Schwamm. Sie sah ihn zweifelnd an und rannte los, die Kinder zu retten.
Bald darauf kam sie weinend zurück. Sie erzählte, das drohende Knurren sei jetzt lauter als zuvor; und die Hütte sei voll übelster Dämpfe.
Die Frau lief zur obersten Brunnenverwaltung und zum Gericht. Doch niemand wollte ihr glauben: "Was die sich so aufregt, es ist doch alles in Ordnung!"
Sie rannte wieder und wieder zum Brunnen. Doch immer vergeblich. Zuletzt erzählte sie, ihre Kinder schrieen verzweifelt um Hilfe. Aber die Tür sei verschlossen und durch die Fenster sehe sie nur undurchdringlichen Rauch.
Der alte Mann gab ihr, was er hatte. Wasser gab es nicht, nur die kümmerlichen Tröpfchen aus seinem Schwamm. Doch das war nicht genug. Eines Tages kam die Frau nicht mehr zurück. Man fand sie im Wald. Tot.
"Sie war hysterisch", sagten die Bürger des Dorfes. "Wie gut, daß unser Brunnen die Kinder nicht herausgegeben hat; sie wollten ja unbedingt bei ihm bleiben. Er ist liebevoll und verantwortungsbewußt, unser Brunnen!"
Die oberste Brunnenverwaltung war nun doch aufmerksam geworden: "Hier müßte einiges erneuert werden; und stinken tut es auch!"
"Wir riechen nichts!" riefen die Bürger. "Er gefällt uns so, wie er ist. Da braucht nichts erneuert zu werden. Außerdem rumpelt und quietscht er wie lange nicht! Es ist unser Brunnen, auf den lassen wir nichts kommen."
“Doch hier muß etwas geschehen“, beschloß die oberste Brunnenverwaltung. “Der Brunnen wird vorläufig stillgelegt!“ Die Bürger waren empört. Sie protestierten heftig. Presse, Funk und Fernsehen berichteten von dem Streit: “Der schöne Brunnen; es wäre eine Schande, hier etwas zu verändern!“
“Na gut, dann bleibt eben alles wie es ist; wir wollen keinen Ärger“, lenkte die oberste Brunnenverwaltung ein. Die Bürger kaufen Wein und feierten ihren großen Sieg.
Das Leben in dem öden Dorf geht weiter. Das drohende Knurren will keiner gehört haben und das Weinen der Kinder dringt nicht nach draußen. Die tote Frau war bald vergessen.
Die Bewohner ernähren sich mühsam von dem, was der karge Boden hergibt. Da es niemals regnet, leiden sie große Not.
Der alte Mann wartet noch immer auf das Wunder. Er träumt von einem See in der Wüste; von Gärten und Wald; von einem Ort, wo viele Menschen ein zu Hause finden.
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