1. Die Einladung
2. Der theure Opa
3. Das Ehrenamt
4. Gnade
5. Heilige Zahlen
6. Glaubens-Bekenntnis
7. Theologe und Maurer
8. Schauspielkunst
9. Philosophie
10. Das Geheimnis
8. Schauspielkunst
oder: Die Aussprache
Herr ZY ist eine großartige Persönlichkeit. Er ist ein glänzender Redner, ein unersetzlicher Seelsorger, bedeutender Theologe, erfolgreicher Renovierer; einflußreicher Kirchen-Politiker; ein . . .
Kurzum, ZY ist nicht nur die Krone der Schöpfung, er ist darüber hinaus das Muster- und Idealbild eines Pfarrherren!
Leider gibt es Menschen, die diese Größe nicht erfassen; die vom Glanz seiner hehren Lichtgestalt geblendet sind. Einige ganz verkommene Subjekte wagen sogar das Unvorstellbare: sie kritisieren ihn.
Laie L gehört zu diesen Subjekten: "Es muß einiges geklärt werden!" "In Ordnung", sagt ZY, "am Mittwoch 11. 00 Uhr; ich komme zu dir."
'Aha', denkt L im Stillen, 'bei mir kannst du das Ende das Gespräches bestimmen; du brauchst nur aufzuspringen und abzuhauen; bei dir wäre es schwieriger, mich loszuwerden.' "In Ordnung", sagt er laut, "am Mittwoch 11. 00 Uhr bei mir."
* * *
Mittwoch 11. 00 Uhr. Pfarrer ZY betritt die Bühne. Erstaunlicherweise ist er pünktlich - ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten.
"Du hast dieses und jenes getan; das finde ich nicht in Ordnung; damit bin ich nicht einverstanden!" beginnt L.
Szene I: Der Heilige
Der Pfarrherr bekommt große Augen. Vor Überraschung findet er keine Worte. Fassungslos kuckt er L an. Sein Blick wechselt zwischen ungläubigem Staunen und belustigter Amüsiertheit: 'Wie kann ein Mensch nur zu solch gigantischer Dummheit fähig sein? Ihm, dem selbstlosen Heiligen, ein derartiges Verhalten zu unterstellen. Nicht zu fassen; solche Dinge vermag er nicht einmal zu denken, geschweige denn zu tun! Der Kritiker ist so was von daneben. ZY erfüllt tiefes Mitleid mit dem armen Irren.'
Das Antlitz das Pfarrer widerspiegelt eine ganze Palette tiefster Gefühle; von seelenvollster Unschuld bis hin zu ratlosem Mitgefühl.
Wäre jetzt ein Fremder anwesend, der ZY nicht kennt, so wäre der in diesem Moment völlig verwirrt: 'Wie konnte ich mich nur so täuschen? Ich hatte beim Pfarrer böse Absicht vermutet und nun finde ich reinsten Edelmut!'
Der Fremde wäre zutiefst beschämt und bis auf die Knochen blamiert mit seinen dummen, bösen Gedanken. Er fiele zerknirscht auf die Knie und bäte reuevoll um Vergebung. Nie wieder würde er ZY derartige Dinge zutrauen.
L ist kein Fremder. Er kennt seinen Pappenheimer. Viel zu oft hat er sich von diesem Schauspiel täuschen lassen; jetzt hat es seine Wirkung verloren.
"Doch, du hast dieses und jenes getan; das finde ich nicht in Ordnung; damit bin ich nicht einverstanden!" sagt L.
Szene II: Judo
Die staunende Amüsiertheit weicht aus dem Angesicht des Pfarrherren. Sie macht nachdenklichem Ernst platz. Er seufzt tief.
"Ja", sagt er dann, "du hast recht. Herr Müller hat mir das auch schon gesagt. An dieser Stelle habe ich meine Probleme."
Der ganze Mensch strahlt einsichtiges Bedauern aus. Sinnend blickt er vor sich hin. "Ich habe mich schon oft bemüht; aber ich schaffe es nicht."
Wieder seufzt er: "Ich kann mich nicht ändern; ich bin so wie ich bin." Er zerfurcht sich die Haare und stöhnt ratlos: "Ja es ist richtig, aber Ihr müßt mich so nehmen, wie ich bin; es geht nicht anders."
Der Fremde wäre positiv überrascht: 'Soviel Einsicht habe ich selten gefunden; ZY ist ein äußerst verständiger und gut- williger Mensch. Ich kann beruhigt aufatmen; alle Probleme sind ausgeräumt!' Hätte er genauer hingesehen, wäre ihm das versteckte Grinsen in des Pfarrers Augen aufgefallen: 'Du kannst mich mal', bedeutet das, 'rede nur, Dummkopf; ich mache, was ich will!'
ZY hat einen Fehler gemacht. Er hatte diesen Trick - vor Jahren schon - seiner Frau beigebracht. Die beherrscht ihn nicht so perfekt; dennoch hatte sie ihn L vorgespielt. Und zehn Minuten später gleich noch einmal: "Ja ich bin ein Sünder, ich mache Fehler; aber das machen doch alle! Du etwa nicht? Willst du was besseres sein? Was bildest du dir ein, mich so eingebildet zu kritisieren !?!"
Sekunden später war ZY ins Zimmer gekommen und hatte die Szene nochmals gespielt - teilweise mit völlig gleichem Wortlaut.
Das war einmal zuviel! Da endlich hatte es dem naiven L gedämmert: 'Sie wollen gar kein Gespräch; sie spielen nur Theater, um mich abzuwimmeln.'
Seitdem schaut er genauer hin. Und so wurde L - langsam und keineswegs perfekt - zum Theaterkritiker.
Er weiß, YZ macht jetzt geistiges Judo: dem Gegner ausweichen und ihn mit einem geschickten Griff durch dessen eigenen Schwung zu Fall bringen. L hat sich oft genug hereinlegen lassen; inzwischen ist er nicht mehr so leicht zu werfen: "Du kannst stöhnen soviel du willst; ich bestehe auf einer Korrektur. Was du getan hast, war nicht in Ordnung!"
Szene III: Die Zentrifuge
ZY sieht auf. Das gramzerfurchte Antlitz glättet sich. Die Augen werden wieder groß und rund. Verständnislos schauen sie auf L. Dann werden sie plötzlich starr und beginnen zu glühen; unsäglicher Schmerz brennt in ihnen.
Der Schmerz breitet sich aus, erfaßt das Gesicht, strömt durch den ganzen Körper. Dann folgt eine weitere Eruption urtiefstem Gefühls: heiliger Zorn! Von den Haarspitzen bis zur kleinsten Zehe erzittert jede Zelle des Gottesknechtes.
L verfolgt die beeindruckende Verwandlung. Sie belustigt ihn immer wieder: 'Mit welchem Recht . . .', flüstert er unhörbar.
"Miiit weeelcheeeem Reeeeeecht . . ." bricht es aus dem Pfarrherren heraus. Er heult auf wie eine Zentrifuge. Weniger die Lautstärke, vielmehr die Wucht der Empörung, der Aufschrei der mißhandelten Seele erschüttern die Szene.
'. . . tust du mir solches Unrecht an? Welch ungeheure Anmaßung, mir so etwas zu unterstellen! Ich bin zutiefst betroffen; noch nie wurde ich so beleidigt. Deine Bösartigkeit übersteigt meine Vorstellungskraft . . .' All das klingt unausgesprochen aus dem Aufheulen emotionaler Urgewalten.
Der Fremde erschräke fürchterlich: 'Wie konnte ich ZY nur so verletzen? Das habe ich nicht gewollt!' Sein schlechtes Gewissen spränge an; von 0 auf 100 in zwei Sekunden.
Er wäre überwältigt von Reue und bäte um Vergebung: 'Es war nicht so gemeint; vergib mir; strafe mich nicht in deinem gerechten Zorn; es tut mir leid; ich nehme alles zurück; nie wieder werde ich so negativ von dir denken; unfaßbar daß ich dir edlen Seele etwas so Schlechtes zugetraut habe . . .'
Theaterkritiker L wiegt den Kopf. Die Szene ist - wie immer - überzeugend gespielt. Dennoch, hier gibt es nur ein 'Gut'; das 'Ausgezeichnet' bleibt Frau ZY vorbehalten. Die ist im Moment nicht anwesend; dennoch hier spielt sie ihren Gemahl mühelos an die Wand. In dieser Rolle ist sie unerreichbar!!! Ihr Aufheulen wirkt so echt, daß dem Publikum der Atem stockt. Es fürchtet eine Ohnmacht, oder schlimmer noch - eine Herzattacke. Frau Zentrifuge ZY tourt so hoch, daß sie das unmöglich ohne gesundheitliche Schäden überstehen kann.
Doch Gott sei Dank, im allerletzten Bruchteil der allerletzten Sekunde kann sie sich jedesmal - mit allerletzter Kraft - wieder fangen; zumindest bisher.
L ist mehrmals darauf hereingefallen. Heute ist er vorbereitet: "Ob ich das Recht habe, weiß ich nicht? Aber ich halte es für meine Pflicht! Als dein Freund muß ich aufrichtig zu dir sein. Oder erwartest du, daß ich dir nach dem Mund rede; dir immer nur Honig ums Maul schmiere?"
Szene IV: Die kleinen Propheten
Klick. Es macht einfach nur klick und aller Schmerz und Zorn sind wie weggeblasen. Der Sturm der Gefühle ist gestillt wie weiland auf dem See Genezareth.
Es wird eine große Stille. Der Geist des Pfarrherren verklärt sich: tiefe Frömmigkeit erstrahlt aus seinem Wesen, ewige Weisheit umwölkt sein Haupt.
"Ja", sagt er, "bei den kleinen Propheten steht geschrieben . . ." Und er hebt an bei Habakuk und Maleachi und legt aus, warum er so - und zwar genau so und nicht anders - handeln mußte. Tiefe theologische Reflexionen vibrieren hinter seiner Stirn; brillante Intelligenz glänzt aus jedem seiner Worte.
Der Fremde sänke in sich zusammen: 'Was verstehe ich schon von Habakuk und Maleachi; wie winzig bin ich neben diesem Geistesriesen; mit meinen mickrigen theologischen Kenntnissen fühle ich mich wie nackt vor einer Menschenmenge; nie wieder werde ich so größenwahnsinnig sein, einen derart herausragenden Kopf zu tadeln.'
L langweilt sich. Er hat schon unter zu vielen Kanzeln gesessen, um sich von hohlem Pfarrherren-Geschwafel noch beeindrucken zu lassen: "Wir reden hier nicht über die kleinen Propheten, sondern über den großen Theologen ZY; und was du getan hast, war nicht in Ordnung!"
Szene V: Der Bäcker
Der Mime verändert seine Rolle nur geringfügig. Aus dem intelligenten Theologen wird ein gestreßter Pfarrer.
"Ach weißt du", klagt er, "ich habe vier Dörfer. Du machst dir keine Vorstellung, was da alles los ist. Wir können ja mal tauschen, dann begreifst du vielleicht, was ich alles zu tun habe . . ."
'. . . nur ein Bäcker kann entscheiden, ob Brötchen schmecken; wer kein Bäcker ist, vermag das nicht. Werde zunächst einmal Pfarrer; erst dann - und nur dann! - wärest du fähig und berechtigt, mein Verhalten zu kritisieren", kündet des Mimen Kunst.
Diese Szene ist neu; L hat sie noch nicht bewußt erlebt. Deshalb weiß er nicht recht, wie er reagieren soll. Es geht ihm wie dem Fremden: er steht ratlos vor dem Gerede.
ZY kriegt das sofort mit und bekommt Oberwasser. Bis dahin wirkte er etwas irritiert; jetzt aber strahlt er vor Zufriedenheit. Wieder einmal hat er seine Überlegenheit bewiesen und einen lästigen Zeitgenossen besiegt!
Er doziert noch eine Weile über die unerträgliche Härte des Pfarrdienstes; dann schaut er auf die Uhr: "Was, schon Viertel vor Zwölf? Da muß ich aber los. Schön, daß wir uns mal ausgesprochen haben!"
Er springt auf und stürzt davon. Immer rastlos unterwegs im selbstlosen Dienst zum Wohle der Menschheit.